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Fotos: freepik
Schulen

Spannungsfelder im heutigen Schulsystem

Das Schulsystem steht unter Druck. Die Herausforderungen sind zahlreich. Eine Auslegeordnung.

In Zeiten des Zerlegens alter Demokratien, eine davon sogar Vorbild für die Demokratie schweizerischer Prägung, stellt sich die Frage nach Qualität und Umfang der politischen Bildung. Der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) mahnt in einem letztes Jahr erstellten Positionspapier, Demokratie habe eine Ewigkeitsgarantie. Das Vertrauen gehe gerade unter den jungen Menschen verloren. Autoritäre Denkweisen fänden vermehrt Zuspruch. Die politische Bildung in der Schule müsse zum Erhalt der Demokratie gestärkt werden.

Im Positionspapier ermuntern die Schweizer Lehrpersonen zu kritischen politischen Debatten in der Schule. Die Lehrpersonen müssten sich dabei neutral verhalten, dürften ihre eigene Meinung höchstens klar etikettiert kundtun. Alternative Positionen sollten aufgezeigt werden, damit sich die Schülerinnen und Schüler eine eigene Meinung bilden könnten.

Damit beginnt der Streit erst. Politische Parteien reklamieren die Neutralität für sich und schwadronieren von einer «Indoktrinierung» der Schule. Lehrpersonen sollten sich nicht verunsichern lassen, sagte LCH-Präsidentin Dagmar Rösler gegenüber der Zeitung «Blick». Politische Bildung ist nur eine von vielen Herausforderungen im Schulsystem.

Digitalisierung und Technologie

Die Digitalisierung prägt den Schulalltag in der Schweiz. Schulen müssen digitale Technologien sinnvoll in den Unterricht integrieren. Neben der technischen Ausstattung braucht es Schulungen für Lehrpersonen und Schüler. Die Herausforderung besteht darin, digitale Medien lernfördernd einzusetzen und gleichzeitig negative Auswirkungen zu vermeiden. Unterschiedliche finanzielle Mittel der Schulen verstärken dabei das digitale Gefälle.

Im Mittelpunkt der Digitalisierung steht die KI. Sie stellt Lehrpersonen vor neue Herausforderungen und fördert den Abschied von alten Unterrichtsgewohnheiten. Die KI stärkt die Individualisierung des Unterrichtens, die Erstellung von persönlichen Lernpfaden und fördert – richtig eingesetzt – die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler. Dabei ist eine grosse Schwäche der KI eine Stärke: Ihre Resultate müssen nämlich hinterfragt, bewertet und überprüft werden. Sie ist nämlich nur so gut wie das Trainingsmaterial. Wenn die KI zum Lerncoach wird, verändert sich auch der Berufsalltag der Lehrperson hin zu einer persönlichen Begleitung auf dem Pfad des Wissens beim verantwortungsvollen Umgang mit der KI.

Fachkräftemangel

Nach wie vor fehlen Lehrpersonen in den Schulstuben der Schweiz. Die Lage bleibt je nach Kanton mehr oder weniger angespannt. Gründe sind steigende Schülerzahlen, Pensionierungen und weniger ausgebildete Lehrpersonen. Ausserdem wächst die Schweiz. Sie soll bis 2040 die 10-Millionen-Grenze überschreiten. Gemäss einer Studie der Pädagogischen Hochschule Zürich (PH Zürich) von Ende 2023 braucht die Schweiz bis 2031 schweizweit auf der Primarstufe zwischen 
43 000 und 47 000 sowie auf der Sekundarstufe I zwischen 26 000 und 29 000 neue Lehrpersonen. Darum werden vielerorts die Klassengrössen erhöht und Quereinsteiger ermuntert. Diese machen jedoch immer noch weniger als 10 Prozent des «Lehrkörpers» aus.

Inklusion

Das inklusive Bildungssystem steht unter Druck, ein Reformfeld, das für Diskussionen sorgt. Die integrative Schule soll abgeschafft werden, fordern vor allem konservative Kreise. Die FDP Schweiz hat dies sogar in einem Positionspapier festgehalten. Die künstliche und sehr «teure Gleichmacherei» in Form einer ausnahmslosen Integration nütze niemandem und untergrabe die Chancengleichheit. Auf der anderen Seite widerspricht eine solche Forderung den Kinderrechten. Das integrative System fördere und verbessere die berufliche Integration von jungen Menschen mit Behinderungen, sagen die Befürworter – dazu wäre die Schweiz gemäss UN-Behindertenrechtskonvention und der Kinderrechtskonvention verpflichtet, stellt aber zur Umsetzung nur ungenügende Ressourcen zur Verfügung. Umfragen zeigen, dass die Lehrpersonen gegen die vollständige Abschaffung der Inklusion sind, jedoch bessere Rahmenbedingungen wünschen.

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Mentale Gesundheit

Auch die Schule wird nicht vor den negativen Auswirkungen der veränderten weltpolitischen Lage seit der Corona-Pandemie verschont, nicht vor den mentalen Folgen der sozialen Medien sowie der steigenden Informationsflut und den Unsicherheiten in Bezug auf den Einstieg ins Berufsleben, auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche in einem härteren wirtschaftlichen Umfeld. Laut Studien sind in der Schweiz zwei von fünf Menschen stark psychisch belastet. Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und der Kampf mit der eigenen Geschlechtsidentität sind nur wenige Beispiele, die immer wieder genannt werden.

Auch Lehrpersonen stehen unter Stress, im Spannungsfeld der Ansprüche der jungen Menschen, deren Eltern und des Schulsystems, das mit Reformen und Digitalisierung für tiefgreifende Veränderungen des Berufsbilds sorgt. Laut Studien verstärken die Verschmelzung von Beruf- und Privatleben, die Klassengrösse, Intensität und Konfliktpotenzial der Interaktionen auf verschiedenen Stufen des Lehrauftrags und immer mehr administrative Tätigkeiten den Stress.

Programme wie MindMatters Schweiz wollen den Teufelskreis durchbrechen, die Schulen durch psychische Gesundheit für Lehrpersonen und Kinder stärken.

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Qualitätsdruck in Sparzeiten

Die Schweiz gewinnt zwar Ränge in der PISA-Studie, aber nur, weil die anderen Länder schlechter wurden: Ökonom Stefan Wolter kritisierte jüngst in der NZZ das Schweizer Bildungssystem. Die Kompetenzen der Erwachsenen müssten angesichts der Fortschritte der letzten Jahre und der Digitalisierung eigentlich grösser sein. «De facto sind wir trotz höherer Bildung alle schlechter geworden.» Dazu passt: Ein Viertel der Schüler verlässt gemäss PISA-Test die Volksschule mit unzureichenden Lese- und Mathematikfähigkeiten.

Daran dürfte sich so schnell nichts ändern. Das Entlastungspaket 2027 für den Bundeshaushalt will im Bildungsbereich 460 Millionen Franken pro Jahr sparen. Die Akademie der Wissenschaften Schweiz protestiert: «Die vom Bundesrat in der Vernehmlassung vorgeschlagenen Massnahmen werden es den Hochschulen zusätzlich erschweren, die von der Schweizer Wirtschaft benötigten Fachkräfte auszubilden.» Das Vernehmlassungsverfahren ist abgeschlossen, im Winter entscheidet das Parlament über die Kürzungen.